Wir sind lernresistente Ärsche 

Oft kommt es vor, dass, wenn ich ein Buch lese, es mich zu einem andern Buch führt und dann staune ich. Peter Singer schrieb vor über 50 Jahren einen Essay mit dem Titel „Hunger, Wohlstand und Moral“. Darin schreibt Singer, dass wir „eigentlich“ moralisch verpflichtet sind, Menschen in Not zu helfen. Unabhängig davon, ob wir die Menschen kennen oder wo auf der Welt sie sich befinden. Sein Beispiel ist ein kleines Kind, das in einem Gewässer ertrinkt und wir haben neue Schuhe an, die das geringe Opfer symbolisiert, das wir bringen müssten, um das Kind zu retten. Müssen wir dem Kind helfen? Dies wird bejaht und daraus ergibt sich die Verpflichtung, das wir allen Menschen in Not helfen sollten. Er hat recht.

Doch was schert den Menschen die Moral? Was kümmert mich die Not von Millionen Menschen im Wo-auch-immer? Muss ich nicht meine Miete zahlen? Schenkt mir jemand etwas? Die Regierung soll sich darum kümmern. Was ist mit der Kirche? Singer hatte als Beispiel den Indien-Pakistan-Krieg von 1971 vor Augen, der neun Millionen Menschen in Lebensgefahr brachte. Achtung Ironie: Es hat sich so viel verändert. Unser Moralkonto weist ein großes Guthaben auf.

Oder?

Syrien, Sudan, Gaza, Burkina Faso, Afghanistan und damit sind schon mehr 33 Millionen Menschen auf der Flucht und/oder bedroht von Hunger und Tod. (1)

Das Buch, das mich zu Singer geführt hat, heißt „Moralische Ambitionen“ von Rutger Bregman und darin beschreibt er Menschen, die sich auf machen, die Welt zu verändern. Ein Mann veranstaltet einen Schwimm-Event und mit dem gesammelten Geld kauft er Moskitonetze für die Menschen, die in den Gebieten leben, die von Malaria betroffen sind. Der Aufruf ist genauso richtig wie die Forderung von Singer und trotzdem passiert jeden Tag und überall immer mehr Leid und Unglück. Bücher bringen nicht viel. Das ist leider offensichtlich.

Die anderen sind untätig

Es ist wohlfeil, sich in seinem gemütlichen Sessel zu setzten und über die fürchterliche Moral der Menschen zu lamentieren. Aber, wir müssen in den Spiegel schauen. Nehmen wir mich als Beispiel. Ich habe ein Auto, produziere jede Menge Müll, fliege hin und wieder durch die Welt, dusche jeden Tag und spenden, wie es Singer fordert, tue ich auch nicht. Ich bin weiß und lebe in einem reichen Land. Meine Probleme sind nicht lebensbedrohlich. Tatsächlich hätte ich sogar etwas Geld übrig um es zu spenden. Ich tue es nicht, weil ich an mich und meine Zukunft denke.

Die Bücher von Singer und Bregman frustrieren mich und besonders das Buch von Bregman setzte sofort eine Lawine von Argumenten in Gang, die mein „Nichts-tun“ rechtfertigen. Aber da gibt es nichts zu beschönigen. Ich schreibe zwar Texte und Lieder, in denen ich auf Missstände hinweise, aber damit ist keinem geholfen.

Verpackungsmüll in einer Mülltonne | Foto: Markus Hansen
Ein Blick in meinen Müll für den gelben Sack, der auch mehr verspricht als er hält. (4) | Foto: Markus Hansen

Es tut weh, da gibt es keine Ausflüchte. Auf andere zu zeigen ist leicht und lenkt die Verantwortung von mir und uns weg. Aber, wir sind es, die den Müll produzieren. Wir verschmutzen und überfischen die Weltmeere und verpesten den Boden und die Luft. Wir sind die Wohlhabenden, die im Überfluss leben, die nur einen Lebenszweck haben und das ist: Konsumieren. Dieses System ist toll, wenn man auf der richtigen Seite ist. Sehr viele müssen im Dreck sitzen, um es anderen zu ermöglichen, im Wohlstand zu leben. Hier in Deutschland: Menschen leben zu sechst in einem kleinen Zimmer, zerteilen jeden Tag Tierkadaver für einen geringen Lohn, damit irgendwo ein anderer sein Rumpsteak für 4,99 Euro auf den Grill werfen kann.

Das Buch über das Wachsen

Ein anderes Buch, das auch über 50 Jahre alt ist: „Die Grenzen des Wachstums“ oft zitiert und noch häufiger ignoriert. Verweist genau auf das Problem, das zu einer Religion mutiert ist: Der Konsum, der uns alle glücklich macht. Es ist in vielen Bereichen besser geworden, wie die gesunkene Kindersterblichkeit oder die medizinische Versorgung. Aber leider hat sich an der Gesamtsituation auf diesem Planeten seit 1971 nicht so viel verändert. Die Reichen werden immer mehr und immer reicher, die Armen werden zahlreicher und die Not wird größer. Dabei ist es gar nicht mehr notwendig, denn Geld ist ausreichend vorhanden. Aber wir wollen es nicht. Frankreich hat vor kurzem erst eine Milliardärs-Steuer abgelehnt (2). Warum? Der Trickle-down-Effekt (3) ist doch ganz offensichtlich Blödsinn und viele Super-Reiche würden diese Steuer gar nicht merken.

Wir wissen alles oder wir könnten alles wissen, aber wir und ich handeln nicht. Wir sind so schrecklich menschlich. Bequem. Egoistisch. Ignorant. Beispiele? Trump, Putin und Netanjahu.

Ein unendliches hin und her zwischen zwei Polen von links nach rechts. Von Kommune zu Diktatur. Jetzt ist es wieder der vermeintlich starke Mann, der alle Probleme mit volksnaher Rhetorik in Handumdrehen und/oder mit Gewalt löst. Das ist falsch. Wir sind es, die etwas verändern könnten. Doch wir sind leider auch nicht besser als die da oben oder die da unten. Wir sind Menschen. Wir sind Tiere. Seit Jahrzehnten versuchen die Antilopen, den Löwen das vegetarische Leben schmackhaft zu machen, da ist nicht wirklich erfolgreich.

Wenn wir nur wollten

Die genannten Bücher von Singer und Meadows haben uns unsere Schwächen gezeigt und auf die Gefahren hingewiesen. Nur ändert sich der Mensch nicht. Trotz aller Informationen, die wir rund um die Uhr bekommen. Wir sind die Dinosaurier, wir wachsen und wachsen und dann gibt es einen großen Knall. Vielleicht gräbt in einer fernen Zukunft jemand unsere Knochen aus, unsere Städte und all den ganzen Plunder und versucht zu verstehen, wie es zum Aussterben der Menschen kommen konnte. Die werden sich kaputt lachen.

Ich irre mich bestimmt und die Menschen lernen jeden Tag etwas dazu, die Geschichte ist ein Komposthaufen und daraus entwickelt sich etwas Neues und Gutes. Irgendwann haben wir alles überwunden, leben im Einklang mit der Natur und allen Menschen auf einem gesunden Planeten ohne Kriege. Niemand muss hungern. Kurz, alles wird perfekt. Bestimmt.


Quellen

  1. https://www.nrc-hilft.de/perspective/2025/hier-sind-funf-Krisen-die-Sie-im-Jahr-2025-kennen-sollten  und https://www.rescue.org/de/watchlist
  2. https://www.deutschlandfunk.de/senat-lehnt-zweiprozentige-mindeststeuer-fuer-milliardaere-ab-102.html
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Trickle-down-Ökonomie
  4. Faktencheck zum Plastikmüll von der Anstalt

Mehr Texte gibt es hier.

Erschöpft und kurz vorm platzen

Erschöpft. Die Menschen in der Ukraine, in Syrien, SriLanke, Afrika, und was weiß ich wo noch überall sind erschöpft. Auch in Deutschland sind die Menschen am Limit. Lehrer*innen, Verkäufer*innen, Erzieher*inn, Polizisten*innen, Reinigungskräfte sind erschöpft. Wir alle sind erschöpft. Die Anzahl der Menschen mit Burnout oder Depression steigt seit Jahren1 und der Wunsch vieler Menschen auf den früheren Ruhestand könnte ein Indiz dafür, das viele einfach nicht mehr können. Mehr als die Hälfte der aktuellen Beschäftigten möchte lieber mit 62 Jahren  – statt mit 67 –  in den Ruhestand gehen.2

Erschöpfter Mann in einer U-Bahn in Hamburg. | Foto: Markus Hansen

Durch den Alltag, die Arbeit und die komplexen Probleme vor denen wir alle stehen, werden die Menschen krank. Hinzu kommt, das der einzelne kaum Einfluss auf Entscheidungen – die ihn durchaus betreffen – hat. Was kann ein Mensch bewirken? Weder hat er Einfluss auf das, was mit seinen Steuern geschieht, noch kann Herr Meier die Klimakatastrophe im Alleingang stoppen. Das ist frustrierend.

Frustrierend ist es auch, wenn die berechtigten Proteste der Frauen und Männer, die im Iran oder China auf die Straße gehen, gewaltsam niedergeschlagen werden. Junge Iraner*innen werden gehängt, weil sie frei sein wollen und die „freie Welt“ schaut zu. Das viele Menschen in ihrer Heimat bleiben würden, wenn es sich dort vernünftig leben ließe, sollte jedem klar sein. Doch allzu oft verhindert die deutsche -, die europäische- oder die westliche Wirtschaftspolitik dies.

Unser Wohlstand hängt davon ab, das ein großer Teil der Weltbevölkerung im Dreck sitzt und für unsere Rohstoffe die eigene Umwelt und Gesundheit zerstören muss – siehe den Artikel von Johanna Roth im ZEIT Magazin no. 47 3 – um zu überleben. Das erhöht die Frustration ebenfalls. Obwohl es uns doch „noch“ so gut geht, sind wir trotzdem erschöpft. Wie kann das sein? 

Das, was den Menschen in den“reichen Ländern“ einen kurzen Moment von Sinn in ihrem Leben zu geben vorgaukelt, der Konsum, ist ein großes Stück vom vergifteten Kuchen von dem an dem wir uns nähren. Wir konsumieren und erzeugen damit Wachstum. Um zu konsumieren müssen wir arbeiten und auch damit erzeugen wir meistens Wachstum. Aber je mehr Kuchen wir in uns hinein werfen, desto fetter werden wir. Irgendwann platzen wir, wie Mr. Creosote, aus dem Film der „Sinn des Lebens“  von Monty Python. Aber ohne Wachstum geht es ja angeblich nicht, also werden wir unweigerlich platzen.

Klima, Corona, Krieg, Inflation, Rezession und dann gibt es noch die ganzen anderen Katastrophen, die für die Masse der Menschen auf den ersten Blick nicht wichtig zu sein scheint, die aber dafür sorgen, das es auch in kleineren, privatem Leben der Menschen zur Erschöpfung kommt. Das Gesundheitssystem ist überlastet. Die Schulen sind eine Katastrophe. Die Lage in den Kitas ist schrecklich. Die Preise steigen, die Straßen, Brücken und Schienen sind Marode und das ist nur ein kleiner Teil der Sorgen und Nöte. Die Politik klebt alles mit Geld zu und lässt dann eine PR-Firma die eigene kurzsichtige Handlung als großartigen und langfristige Lösung verkaufen. Der neue Satz des Bürgergeldes, der 50 Euro mehr als der jetzige Hartz IV-Satz beträgt, ist ja schon der Untergang der kapitalistischen Welt bzw. ein großer Erfolg der Politik, je nach dem, wer etwas dazu sagt. Dabei ist es nur ein Witz. 

Wir leben in einer Welt, die wie ein Haus ist, auf das immer noch ein Stockwerk gebaut wird, aber am Fundament wird nichts verändert.  Wenn jetzt eine Etage renoviert werden soll, dann bricht alles zusammen, aber wenn man noch ein Stockwerk baut, dann kracht auch alles zusammen. Trotzdem geht es munter weiter. Wir wachsen, fressen Kuchen und bauen Stockwerk auf Stockwerk. Und dann?

Einwanderung, Bundeswehr, Steuern, Pflege, Rente, Bildung, Medizin und Infrastruktur, all das sind die oben genannten Stockwerke , die eine grundsätzliche Änderung erfordern. Warum zahlen nicht alle in die Rentenkasse ein? Warum ist die Steuererklärung nur noch mit Hilfe von Software oder Beratern möglich? Warum müssen Krankenhäuser Gewinn machen? Wieso gibt es kein vernünftiges Einwanderungsgesetzt und dazu eine sinnvolle Integration? Warum brauchen wir fast 300.000 Soldaten, die dann zwei Tage schießen können und dann mit Steinen werfen müssen? Warum ist in Afrika der importierte, deutsche Joghurt billiger als der einheimische?

Dieses Land, diese Welt ist voll verkorkst. Alles hängt mit allem zusammen und die einzige Antwort, die Politiker und Unternehmen auf die großen Probleme haben ist: Geld und damit Wachstum. An das Märchen „Trickle-down“ glauben ja immer noch sehr viele und verteidigen damit ihre eigenen Pfründe. Lobbyisten verhindern weltweit sinnvolle Änderungen, sei es die Waffen-, die Zucker-, oder die Sonstwaslobby und zementieren damit ihren eigenen Untergang. Glückwunsch. Lobbyisten haben scheinbar keine Kinder.

Kann es nicht auch ohne Wachstum gehen? Wäre nicht eine gesunde Stagnation mal sehr erholsam? Wären wir vielleicht alle weniger erschöpft oder weniger ausgebrannt,  wenn es nicht immer nur um Wachstum gehen würde? Wenn wir die Globalisierung mal ernst nehmen würden? Wir sind eine Gemeinschaft und helfen uns gegenseitig? Statt immer nur zu schauen, wie kann ich noch mehr Geld aus dem weit entfernten Land rausholen?
Utopisch? Wahrscheinlich. 

Die EU hätte die Möglichkeit einen Anfang zu wagen, wenn es nicht dieses völlig undemokratische Konstrukt wäre, mit Einstimmigkeit, Hinterzimmer-Absprachen und Vetorechten. Wachstum kann nicht die Antwort auf die Zukunft sein. Schon gar nicht Wachstum für die einen und Armut für die anderen. Das ist jedem klar, der sich schon einmal ungerecht behandelt gefühlt hat. Wie erklärt man einem Kind, warum die Menschen in einem Land nichts zu essen haben und im anderen werden Tonnen von Nahrungsmitteln weggeworfen? Das verstehe ich leider auch nicht.

Neben den guten Ansätzen von Christian Felber4 zum Postwachstum oder auch Degrowth ist wohl Mut gefragt. Politiker*innen, die eine Vision haben und etwas verändern wollen. Auch gegen Widerstände anderer Parteien und die Interessen der kinderlosen Lobbyisten*innen. Den Mut etwas zu verändern und es vor allem gerecht zu verändern, nicht nur in Deutschland, sondern Global. Es gebe so viele Möglichkeiten dazu. Das Benzin teurer machen, eine Zuckersteuer, eine Kapitalertragssteuer, höhere Erbschaftssteuer, Senkung der Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel, eine extra Fleischsteuer und gerechte Preise für Landwirte. 

Was könnten wir für ein schönes Leben haben – ich meine alle Menschen – wenn Religion Privatsache wäre, die Wirtschaft dem Menschen dienen würde, die Gier als Straftat behandelt werden würde,  die Maslowsche Bedürnishierarchie (5)  auf der ganzen Welt für alle erfüllt ist und Unrecht  ein Relikt der Vergangenheit wäre. Eine Welt, in der die eine Hälfte eben nicht im Luxus lebt, während die andere kaum weiß, woher sie Trinkwasser oder etwas zu Essen bekommen kann. Sondern alle friedlich zusammen leben. Wo wir nicht Leben um zu arbeiten sondern arbeiten um zu leben.Utopisch? 


  1. https://brf.be/national/1486937/
  2. https://www.merkur.de/leben/geld/renteneintrittsalter-rente-eintritt-beitraege-geld-ruhestand-rentenversicherung-renteneintritt-zr-91929140.html
  3. ZEIT Magazin no. 47 vom 17.11.2022 – Johanna Roth „Das Monster schläft nie“ Seite 36
  4. https://www.oekorausch.de/wirtschaft-ohne-wachstum/ und https://christian-felber.at/christian-felber/
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bedürfnishierarchie